Der Detective, der Emotionen nicht versteht
Der erste Satz
Die junge Frau, die vor ihm stand, lächelte.
Krimi der Woche ∙ N° 06/2023 ∙ Hanspeter Eggenberger
Gibt es eigentlich keine „normalen“ Ermittler mehr in der Kriminalliteratur? (Alkoholiker:innen gehen da schon als normal durch.) Viele Autor:innen sind bestrebt, eine sogenannt originelle Figur zu schaffen, die einzigartig und damit unverwechselbar ist. Dem einen fehlt ein Bein, andere haben psychische Probleme, und einer ist blind. Doch allzu oft sind solche Figuren nur pseudooriginell, und ihre Beschreibung in Verlagsankündigungen und auf Buchrückseiten wirkt auf mich in der Regel abschreckend.
Dennoch habe ich zu „Der Kriminalist“ gegriffen. George Cross, Detective Sergeant im englischen Bristol, ist nicht der erste Krimi-Cop, den man landläufig als Autisten bezeichnen würde. Genau gesagt, leidet er unter dem Asperger Syndrom, einer eher milden Form von Autismus. Wobei er eigentlich gar nicht leidet, es sind seine Kolleg:innen, die unter ihm leiden. Denn er kann eine echte Nervensäge sein, und man fragt sich schon, ob es so jemand, der seine Chefs nervt, im wahren Leben wirklich zum Detective Sergeant bringen könnte.
Wie auch immer, Cross ist im ersten Krimi des britischen Drehbuchautors und Regisseurs Tim Sullivan ein Mordermittler. Sein „Handicap“, wenn man es so bezeichnen will, führt zu einer Regelversessenheit. Verbissen hält er alle offiziellen Verfahrensweisen genauestens ein. Seine Unfähigkeit, Emotionen zu verstehen, führt zusätzlich dazu, dass er mehr und genauer fragt. Bauchgefühle kennt er nicht. Und das alles macht ihm zum erfolgreichsten Ermittler beim Major Crime Unit in Bristol.
Dem ermordeten Obdachlosen fühlt Cross sich verbunden, weil er selbst ein Aussenseiter ist. „Was ihn in erster Linie an Morden interessierte, war die Chance, einem Opfer eine Stimme zu gebe, wenn es selbst keine mehr hatte.“
Bald stellt sich heraus, dass der tote Obdachlose früher ein renommierter Zahnarzt in Bristol war. Vor 15 Jahren, nach der Ermordung seiner Frau, die nie geklärt wurde, hatte er sich selbst in akribische Ermittlungen gestürzt, sich im Alkoholismus verloren, bevor er eines Tages verschwand. Die Familie liess ihn nach sieben Jahren für tot erklären, damit der Schwiegersohn sich endlich die Zahnarztpraxis unter den Nagel reissen konnte.
Für Cross ist schnell klar, dass der Mann von der gleichen Person umgebracht worden ist wie seine Frau. Sullivan entwickelt daraus einen leidlich spannenden und unterhaltsamen Whodunit-Plot, in dem auch der frühere Mordermittler ins Visier von Cross gerät. Was seinen Chefs zunächst gar nicht in den Kram passt.
Cross’ Besonderheit sorgt, keineswegs unerwartet, für allerlei Situationskomik und schräge Szenen. Das könnte – und wird oft bei Protagonisten dieser Art – pseudolustig und eher peinlich werden. Als versierter Autor von TV-Serien und Hollywood-Filmen weiss Tim Sullivan solche lauernden Untiefen geschickt zu umschiffen.
Im Original heisst „Der Kriminalist“ „The Dentist“, also „Der Zahnarzt“. Auch die weiteren Titel – Sullivan führt Cross in einer Romanreihe weiter – benennen jeweils das Opfer: „The Cyclist“, „The Patient“, „The Politician“ und „The Monk“. Ich bin gespannt, wie das der deutsche Verlag mit den weiteren Titeln macht, falls er die ganze Reihe rausbringt.
Wertung: 2,7 / 5
Tim Sullivan: Der Kriminalist
(Original: The Dentist. Pacific Press, London 2020)
Aus dem Englischen von Frauke Meier
Blanvalet, München 2023, 512 Seiten, 12 Euro/ca. 17 Franken
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Tim Sullivan,
geboren 1958 in Deutschland, wo sein Vater bei der Royal Air Force stationiert war, studierte Englisch und Jura an der University of Cambridge. Er engagierte sich im Theaterclub der Universität. Danach arbeitete er zunächst als Rechercheur bei Granada Television für die Comedy-Serie „Alfresco“. Zusammen mit dem Autor Richard Maher, mit dem er schon an der Uni ein Theaterstück geschrieben hat, schrieb er die siebenteilige Sitcom-Serie „The Train Now Leaving“, die im Speisewagen eines InterCity-Zugs zwischen London und Manchester spielte.
Nicht nur als Drehbuchautor, sondern auch als Regisseur und Produzent arbeitete er an zahlreichen TV-Produktionen, zunächst für Granada, dann auch für andere Stationen. Er schrieb auch mehrere Kinofilme, darunter „Letters to Juliet“ (2010; mit Amanda Seyfried; Regie: Gary Winick)
2020 veröffentlichte er im Eigenverlag seine ersten beiden Kriminalromane mit Detective Sergeant George Cross, „The Dentist“ („Der Kriminalist“) und „The Cyclist“. Nachdem die beiden Titel in vier Monaten mehr als 200'000 Mal heruntergeladen wurden, nahm ihn der Verlag Head of Zeus unter Vertrag, der 2022 den dritten und den vierten Cross-Roman, „The Patient“ und „The Politician“, veröffentlichte. Im April 2023 erscheint Band 5, „The Monk“.
Tim Sullivan lebt mit seiner Frau Rachel in North London.