Ist sein Vater der Mörder der Mutter?
Der erste Satz
An einem Montag im Januar, das neue Jahrtausend war gerade mal drei Wochen alt, fuhr Charlie Deravin in sein Elternhaus, um seine Surfbretter zu holen.
Krimi der Woche ∙ N° 41/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Zwanzig Jahre ist her, seit seine Mutter verschwunden ist. Charlie Deravin war an diesem Tag als Polizist an der Suche nach einem Jungen beteiligt, der vermisst wurde. Beide wurden nicht gefunden. Charlies Vater, auch Polizist, wurde verdächtigt, seine Ex-Frau umgebracht zu haben. Während sein Bruder ebenfalls den Vater verdächtigte, glaubte Charlie nie, dass der Vater so was getan haben könnte.
Einmal mehr ist ein Polizist Protagonist in einem Kriminalroman des australischen Altmeisters Garry Disher. Aber keiner seiner Serienhelden, Inspector Challis oder der in die Pampa verbannte Hirschhausen. Charlie Deravin im neuen Roman „Stunde der Flut“ ist eine neue Figur ausserhalb der beliebten Serien. Das Verschwinden seiner Mutter beschäftigte ihn stets so sehr, dass daran seine Ehe zerbrach. „Er war ganz besessen herauszufinden, was mit seiner Mutter geschehen war, nicht davon, seine eigene Familie zu pflegen.“
Nun ist Charlie von seinem Job bei der Kripo suspendiert. Er ist handgreiflich geworden gegenüber seinem Vorgesetzten, der einen jungen Vergewaltiger davonkommen lassen wollte. Getrennt von seiner Frau und seiner Tochter und vom Job suspendiert, hat Charlie neben dem Surfen alle Zeit der Welt, sich noch mehr mit dem Verschwinden seiner Mutter zu beschäftigten. Er sucht nach ihren alten Bekannten und rückt Zeugen von damals auf die Pelle.
Als überraschend die Leichen der Mutter und des gleichzeitig verschwundenen Jungen am gleichen Ort gefunden werden, gerät Charlies inzwischen pensionierter Vater wieder ins Visier der Polizei. Doch der sitzt gerade mit seiner neuen Partnerin auf einem Kreuzfahrtschiff in Japan in Quarantäne fest, da darauf das neue Virus aus China ausgebrochen ist.
Garry Disher zeichnet in „Stunde der Flut“ ein düsteres Zeitbild. Und dies nicht nur in Bezug auf Polizei und Justiz, die einen Vergewaltiger zum Opfer machen wollen. Bedrohliche News über das neue Virus wechseln sich ab mit Meldungen über verheerende Buschbrände, die eine Folge der Klimaerwärmung sind. „Liess die eine Schreckensnachricht nach, trat die nächste in den Vordergrund.“
„Hast du auch manchmal den Eindruck, dass die Welt zu Ende geht?“, fragt der aus der Quarantäne heimgekehrte Vater Charlie. „Ständig“, antwortet Charlie, der ohnehin immer wieder mit seinem Leben hadert. Und erinnert sich daran, dass ihm seine Freundin Anna kürzlich praktisch die gleiche Frage gestellt hat. Nicht dass sein neuer Roman völlig pessimistisch wäre, aber der für die tiefe Menschlichkeit seiner Romane bekannte 73-jährige Autor lässt hier Optimismus nur sehr verhalten aufscheinen.
Wertung: 4 / 5
Garry Disher: Die Stunde der Flut
(Original: The Way it is Now. Text Publishing, Melbourne 2021)
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Unionsverlag, Zürich 2022. 333 Seiten, 24 Euro/ca. 32 Franken
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Garry Disher,
geboren 1949 in Burra, South Australia, ist auf einer Farm in Südaustralien aufgewachsen und wollte schon als Kind Schriftsteller werden. Er studierte zunächst Geschichte an der Adelaide University und bereiste dann Europa und Afrika. Nach der Rückkehr schrieb er eine Masterarbeit an der Monash University. Gleichzeitig begann er Kurzgeschichten zu schreiben, und er erhielt ein Stipendium für ein Creative Writing Fellowship an der Stanford University. Während vielen Jahren lehrte er in Melbourne neben seiner schriftstellerischen Arbeit kreatives Schreiben.
Inzwischen ist er längst einer der bekanntesten australischen Schriftsteller. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, neben Kriminalromanen auch andere Romane, Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher zur Geschichte Australiens und über das Schreiben. 1996 wurde sein Roman „The Sunken Road“, der auf Deutsch nicht erschienen ist, für den Booker Prize nominiert.
Zu Dishers Krimis zählen insbesondere drei herausragende Serien. Sieben Bände umfasst die Serie mit Inspector Challis (Deutsch im Unionsverlag). In der 1991 gestarteten Reihe um den Berufsverbrecher Wyatt (Deutsch bei Pulp Master) sind bisher neun Bände erschienen. Seit 2020 sind drei Bände mit dem aufs Land verbannten Polizisten Paul „Hirsch“ Hirschhausen erschienen (Deutsch im Unionsverlag).
Mehrere von Dishers Krimis waren auf der Shortlist für den Ned Kelly Award, den wichtigsten Krimipreis Australiens, den er für zwei Bücher und schliesslich auch für sein Gesamtwerk gewann. Seine Bücher erscheinen auch in den USA und in Grossbritannien sowie in mehreren anderen Sprachen. Vor allem im deutschen Sprachraum sind sie sehr erfolgreich.
Garry Disher lebt auf der Halbinsel Mornington südöstlich von Melbourne im australischen Bundesstaat Victoria.