Der Bankräuber und seine Geisel
Der erste Satz
Um 6 Uhr 45 war die Sonne über dem Jubilation County bereits aufgegangen.
Krimi der Woche∙ N° 26/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger
Ein Kaff im ländlichen Norden von Georgia. Die lokale Bankfiliale ist noch nicht geöffnet. Die stellvertretende Filialleiterin Neisha und der phlegmatische Kassierer Charlie, verstauen das eben angelieferte Bargeld in den Kassen und im Tresor. Da schlägt ein bewaffneter Mann die Glastür ein. Niesha versucht den Alarmknopf zu erreichen. Der Bankräuber erschiesst sie. Er packt das Geld ein. Und nimmt Charlie als Geisel mit.
Es beginnt wie eine klassische Bankraubgeschichte. Doch „Letzter Aufruf für die Lebenden“, das Debüt des amerikanischen Rockmusikers und Autors Peter Farris, ist ein ganz aussergewöhnlicher und aufregender Roman. Dicht, komplex, packend, voller spektakulärer Szenen, düster, aber auch mit Humor. Mit faszinierenden Hauptfiguren, dem Bankräuber und der Geisel, zwischen denen sich eine seltsame Beziehung entwickelt. Und mit starken Nebenfiguren wie dem ausgebrannten und depressiven Sheriff Lang: „Sich besaufen. Sich raushalten. Seine Spezialität. Seit mehr als einem Jahrzehnt sein Standardverhalten.“
Vor zehn Jahren ist der Roman in den USA erschienen, erhielt hymnische Kritiken, doch der Verlag brachte das Buch nicht an die Leser. Der Erfolg für Farris begann in Frankreich, wo nach dem Erstling zwei weitere Romane von ihm auf Französisch erschienen, für deren Originale er keinen Verlag fand. Erst nachdem er in Frankreich ein mit vielen Preisen ausgezeichneter Star geworden ist, erschien kürzlich sein zweiter Roman in den USA, dazu eine Neuauflage des Debüts, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist.
Bankräuber Hicklin hat nach dem erfolgreichen Coup nur noch Probleme. Seine Geisel serviert er nicht ab, wie er es vorgehabt hat, sondern nimmt sie mit in sein Versteck, wo er mit seiner drogensüchtigen Freundin haust. Und nicht nur der Sheriff, das Georgia Bureau of Investigation und das FBI fahnden nach ihm, auch seine Kumpel aus dem Knast suchen ihn. Denn den von der Arischen Bruderschaft im Gefängnis geplanten Raub hätte er mit ihnen durchziehen sollen. Sein Sololauf bringt ihn auf die Abschussliste brutaler Killer.
Am Ende hat Hicklin nichts mehr zu verlieren. „Durchgeknallte Soziopathen“, erklärt er Charlie einmal, würden wie er selbst im Gefängnis landen. „Oder sie werden Politiker und Manager.“
Bis es zum grossen Showdown kommt, gibt es andere spektakuläre Szenen. Etwa eine Schiesserei während einem bizarren Klapperschlangenritual in einer Kirche. Bei vielen Szenen meint man vorherzusehen, wie sie sich entwickeln werden. Doch es kommt immer viel schlimmer und schwärzer, als man denkt, wenn Farris die Seelen von Schuldigen wie Unschuldigen erkundet.
Wertung: 4,7 / 5
Peter Farris: Letzter Aufruf für die Lebenden
(Original: Last Call for the Living. Forge Books, New York 2012)
Aus dem Englischen von Sven Koch
Polar Verlag, Stuttgart 2022. 423 Seiten, 16 Euro/ca. 23 Franken
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Peter Farris,
geboren 1978, studierte an der renommierten Yale University in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. Doch eine akademische Karriere interessierte ihn nicht besonders, und er widmete sich vor allem seiner Leidenschaft für Musik. Neben einem Brotjob als Kassierer auf einer Bank war er ab 2003 Sänger der Hardcore-Band Cable aus Connecticut, mit der er mehrere Alben aufnahm.
Wenige Wochen nach dem Antritt seines Bankjobs wurde „seine“ Bank von einem Räuber überfallen, der zwar bewaffnet war, seine Pistole aber nicht zog. Kein Wunder, dreht sich sein erster Roman, „Last Call for the Living“, der 2012 erschien und jetzt auch auf Deutsch vorliegt, um einen Bankraub. Was die Schriftstellerei angeht, ist Farris familiär „vorbelastet“: Sein Vater ist der bekannte Southern-Gothic-Autor John Farris, von dem mehrere Bücher verfilmt wurden (darunter „The Fury“, 1978 von Brian de Palma inszeniert).
Farris’ Debüt erhielt zwar sehr gute Kritiken, dem Verlag gelang es jedoch nicht, das Buch unter die Leute zu bringen. In Frankreich dagegen wurde das Buch ein Erfolg, und der renommierte Verlag Gallmeister brachte auch die beiden nächsten Romane auf Französisch heraus, die in den USA zunächst keinen Verlag fanden. „The Devil Himself“ (2017) wurde in Frankreich mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet; danach folgte „The Clay Eaters“ (2019). Erst im Mai 2022 erschien „The Devil Himself“ auch auf Englisch, und auch „Last Call for the Living“ wurde neu aufgelegt.
Peter Farris lebt mit seiner Familie in einer Kleinstadt im Cherokee County im Norden des US-Bundesstaates Georgia.