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Selbst Engel haben Albträume

Der erste Satz
Jeden Morgen gehe ich blind über die Strasse.

Krimi der Woche∙ N° 19/2022 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es gibt Bücher, bei denen man schon bei den ersten Sätzen merkt, dass man sie gerne lesen wird. Und umgekehrt jene, bei denen man nach weniger als einer Seite weiss, dass das nichts wird. Und dann gibt es Bücher wie „Nur die Wahrheit“ von Yves Gaudin, bei dem ich etliche Seiten lang mit mir haderte: Ist das wirklich gut, oder ist es doch eher manieriert, gezielt gekünstelt? Je länger ich las, umso mehr fand ich diesen relativ kurzen Roman wirklich gut. Auch wenn er, oder vielleicht gerade weil er beim Lesen manchmal wehtut.

„Jeden Morgen gehe ich blind über die Strasse“, erzählt uns Emile Blanchard im ersten Satz des Prologs. Der pensionierte Pariser Kriminalkommissar ist verbittert, weil er seinen letzten Fall nicht lösen konnte. Und über die Schwierigkeiten, in die ihn der Tod seiner Mutter brachte. „Ich gehe über die Strasse, weil ich muss, dann ist endlich ein für allemal Schluss“, heisst es dann. „Dort wird alles enden. Zermalmt. Auf der Zielgeraden. Und meine Gedärme werden ihnen in die Fresse spritzen. Eingeweide auf der Windschutzscheibe, das ist glitschig, eklig, geschieht ihnen recht, hab nie behauptet, das Leben sei lustig.“

Tiefschwarz ist die Geschichte, die der Westschweizer Autor in seinem zweiten Roman erzählt. „Es war nicht meine Intention, einen Kriminalroman zu schreiben“, sagte Gaudin in einem Interview mit dem Westschweizer Radio RTS, „es ist kein Roman noir, es ist das Leben, das so schwarz ist.“ Es ist auf jeden Fall ein in Form und Sprache aussergewöhnlicher Roman, der auf sehr eigenwillige Art von Liebe und Tod handelt.

Gaudin stammt aus dem französischsprachigen Teil des Kantons Wallis, wo er eine psychologische Praxis mit hollistischem Ansatz betreibt. Im australischen Sydney, wo er mehrere Jahre lebte, schrieb er seinen ersten Roman „Trop tard pour mourir“, bevor er 2015 in die Schweiz zurückkehrte. Anfang 2020 erschien sein zweiter Roman „En vérité“ im renommierten Pariser Verlag Héloïse d’Ormesson, der jährlich mehrere tausend Manuskripte erhält und lediglich rund zwanzig davon veröffentlicht. Aber fast wäre das schiefgegangen. Als er das Manuskript an den Verlag sandte, hat Gaudin die Absenderangabe vergessen. Der Verlag, der offensichtlich diesen Roman unbedingt publizierten wollte, brauchte mehrere Wochen, um Gaudin ausfindig zu machen. Nach ein paar Umwegen hat es dann doch noch geklappt, und inzwischen liegt der Roman auf Deutsch vor.

Die Geschichte liefert zwar durchaus Ingredienzen für einen Thriller, bedient aber nicht die Erwartungen, die in der Regel an das Genre geknüpft sind. Zwei der Mordopfer in Blanchards letztem Fall, ein Biologe und ein Mathematiker, arbeiteten in einem Labor an Projekten, die das Leben verlängern könnten. Das dritte Opfer war ebenfalls Biologe. Alle wurden durch eine Injektion getötet, während sie Sex hatten, und ihnen wurde die Zunge herausgebissen. Es gibt eine rätselhafte Frau, die ebenfalls in dem Labor arbeitete. Geht es um Organhandel? Und welche Rolle spielt der Präfekt von Paris dabei?

Beeindruckend ist die Sprachkraft, die Anne Thomas überzeugend ins Deutsche übertragen hat. Auch in der Übersetzung zieht einen der sprachliche Rhythmus zeitweise fast magisch mit. Möglicherweise kommt das Rhythmische daher, dass Gaudin nicht nur Psychologe, sondern auch studierter Musiker – Diplom für Trompete vom Konservatorium Neuenburg – und Musiktherapeut ist. Zuweilen prasseln schier endlose Sätze wie ein Wasserfall aus Wörtern und Satzteilen über einen herab. Den Rekord hält ein Satz, der über fast viereinhalb Seiten geht.

Daneben gibt es auch viele kurze Sätze, die man sich in ein in Schwarz gebundenes Poesiealbum notieren könnte. Zum Beispiel:

„Der Tod der anderen ist unsere Krankheit.“

„Das Leben ist bloss eine Kirche, erst findet man darin Zuflucht, und am Ende geht man darin verloren.“

„Selbst Engel haben Albträume.“

„Man hat nur eine wahre Liebe. Der Rest ist schmückendes Beiwerk, etwas gegen die Einsamkeit, ein kleiner Trost, nichts weiter.“

„Die schlimmsten Dinge des Lebens enden immer in einem Polizeirevier. Das ist ein Naturgesetz.“

Der Epilog nimmt das Ritual des blind über die Strasse Gehens wieder auf. Teils mit den gleichen Sätzen. Teils leicht variiert. Und noch etwas schärfer. Ein raffinierter Noir-Roman. Auch wenn Gaudin ihn nicht so bezeichnen würde.

Wertung: 4 / 5

Yves Gaudin: Nur die Wahrheit
(Original: En verité. Editions Héloïse d'Ormesson, Paris 2020)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2022. 193 S.,22,90 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: PD/Lenos Verlag

Yves Gaudin,

geboren 1967 im Wallis, studierte Musik am Konservatorium in Neuenburg, wo er mit einem Diplom für Trompete abschloss. An der Universität im südfranzösischen Montpellier schloss er mit einem Diplom in Musiktherapie ab, an der Universität Freiburg mit einem Master in Psychologie, und an der Universität von Nizza doktorierte er in klinischer Psychopathologie. Als psychologischer Forscher hat er sich mit der Sprachförderung autistischer Kinder beschäftigt.

Er lebte unter anderem in Südafrika, Burkina Faso, Australien und Frankreich. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz arbeitete er als Musiktherapeut und Psychologe, unter anderem mit geistig behinderten Kindern bei der Fondation Delafontaine in Lausanne.

Als Autor veröffentlichte er Prosa, Lyrik und einen Text fürs Theater. Sein erster Roman „Trop tard pour mourir“ erschien 2015. „En verité“, jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Nur die Wahrheit“ herausgekommen, war 2020 sein zweiter Roman.

Zurzeit praktiziert er als Musiktherapeut und Psychologe mit holistischem Ansatz in einem Therapiezentrum im Wallis. Er lebt in Sitten.


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