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Eine Brutstätte von Gewalt und Familienfehden

Die ersten Sätze
Der alte Mann war auf der Suche nach Ginseng; mit seinem langen Stock schob er Maiapfel und Lattich beiseite.

Krimi der Woche ∙ N° 30/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

In unwegsamem Gebiet in den Hügeln der Appalachen in Kentucky wird die Leiche einer Frau aus der nahen Kleinstadt gefunden. Linda Hardin, seit kurzem Sheriff des County, gerät unter Druck. Sie bittet ihren Bruder Mick um Hilfe, der gerade in der Gegend ist. Eigentlich sollte der erfahrene Militärermittler auf dem Army-Stützpunkt in Deutschland sein, von wo aus er in Irak, Syrien und Afghanistan eingesetzt wird. Doch er muss seine Beziehung zu seiner schwangeren Frau klären und liegt deswegen mit einem schweren Kater in einer Waldhütte.

Eine Leiche zum Auftakt, ein aufrechter Ermittler mit einem Alkoholproblem: „Unbarmherziges Land“ von Chris Offutt beginnt, wie man es von vielen Krimis kennt. Doch der erste Eindruck täuscht. Dies ist keine Standardware nach dem üblichen Muster. Der 62-jährige Schriftsteller aus Kentucky, der sich ausserhalb der Kriminalliteratur einen Namen gemacht hat – vor über 20 Jahren sind zwei seiner frühen Werke auch auf Deutsch erschienen – und als Autor für TV-Serien wie „True Blood“ und „Weeds“ tätig war, setzt nicht auf das klassische Krimi-Schema.

Der Tod der Frau in den Bergen zieht weitere Todesfälle nach sich. „Tod brachte Tod hervor, und Mick war nicht in der Lage gewesen, dem Verderben Einhalt zu gebieten.“ Wer der Mörder ist, wird im Verlauf der Geschichte immer unwichtiger. Mick Hardin bringt diese Ermittlung als inoffizieller Deputy seiner Schwester zwar zu Ende, aber ohne offizielles Resultat. Neben ihm spielen auch „The Killing Hills“, so der Originaltitel des Romans, eine Hauptrolle. Das ländliche Kentucky ist eine abgehängte Region. „Kein Politiker schüttelte jemandem aus den Appalachen die Hand, ausser um den Diebstahl von Land und Ressourcen zu besiegeln.“ Hier leben misstrauische Menschen, die letztlich nur ihrer eigenen Sippe vertrauen. Wo früher in den abgeschiedenen Gebieten illegal Schnaps gebrannt wurde, werden heute Drogen gekocht. Familienfehden und Rachefeldzüge überdauern Generationen.

Diese Gegend und den Menschenschlag, der da lebt, bringt uns Offutt packend näher. Sie ist nicht einfach Lokalkolorit als Hintergrund, sondern tragender Teil der Geschichte. „Unbarmherziges Land“ ein beinharter und düsterer Country Noir der Extraklasse, knackig erzählt, brutal, aber auch gefühlvoll und nicht ohne trockenen Humor. Auch wenn die Übersetzung teils etwas hölzern wirkt. Chris Offutt reiht sich damit ein in die in letzter Zeit immer länger werdende Liste von herausragenden Autoren aus dem ruralen Hinterland der USA, zu denen neben etablierten Meistern wie Daniel Woodrell und Donald Ray Pollock auch aufregende neue Stimmen wie Brian Panowich, Katherine Faw und S. A. Cosby gehören.

Wertung: 4,6 / 5

Chris Offutt: Unbarmherziges Land
(Original: The Killing Hills. Grove Atlantic, New York 2021)
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Tropen/Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart 2021. 221 Seiten, 15 Euro/ca. 23 Franken

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Bild: Sandra Dyas

Chris Offutt,

geboren 1958 als Christopher John) Offutt in Lexington im US-Bundesstaat Kentucky, ist der Sohn des Science-Fiction- und Fantasy-Autors Andrew J. Offutt. Er wuchs mit drei Geschwistern in Haldeman auf, einer ehemaligen Bergbaugemeinde mit 200 Einwohnern im Rowan County in den Ausläufern der Appalachen im östlichen Kentucky. Er studierte an der Morehead State University, die er mit einem Diplom in Theaterwissenschaften sowie Englisch im Nebenfach abschloss. Nach dem Studium reiste er als Anhalter durch das Land, wobei er verschiedenste Gelegenheitsjobs annahm und zu schreiben begann. Später besuchte er den renommierten Iowa’s Writer Shop, ein Programm der University of Iowa, zu dessen Absolventen unter anderen Grössen wie John Cheever, Philip Roth und T. C. Boyle zählen.

1992 debütierte er mit der Story-Kollektion „Kentucky Straight“. Sein zweites Buch, „The Same River Twice“ (1993) erschien auch auf Deutsch („Wo der Fluss mein Herz berührt“, Goldmann, 1994). Auch „Out of the Woods“ (1999) liegt auf Deutsch vor („Fern der Wälder“, Goldmann, 2001). Neben Short Storys und Romanen schreibt Offutt auch für Comics. Zudem schrieb er Drehbücher für die bekannten TV-Serien „True Blood“, „Weeds“ und „Treme“. Mit dem Roman „Country Dark“ (2018) legte er seinen ersten Country-Noir-Roman vor, der in Frankreich mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Mit dem aktuellen Roman „The Killing Hills“ („Unbarmherziges Land“), der auch in Frankreich, Spanien und Italien erscheint, scheint ihm jetzt der internationale Durchbruch zu gelingen.

Chris Offutt lebt im ländlichen Lafayette County in der Nähe von Oxford im US-Bundesstaat Mississippi. Er ist Gastdozent an der University of Mississippi in Oxford. Zu seinen Leidenschaften gehört die Fotografie, der er sich seit vielen Jahren widmet; seit 2020 zeigt er seine Arbeiten auf Instagram.


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