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Unfall mit Fahrerflucht oder Mord?

Der erste Satz
Mein Vater wurde in einer Frühlingsnacht vor vier Jahren getötet, während ich in der Ecknische eines kurz zuvor eröffneten Bistros in Oakland sass.

Krimi der Woche ∙ N° 19/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Es war Nacht. Noras Vater, der in einer Kleinstadt in der kalifornischen Mojave-Wüste einen Diner führte, wollte nach der Arbeit die dunkle Strasse überqueren, um mit dem Auto nach Hause zu fahren. Dabei wurde er angefahren und getötet. Der Fahrer fuhr weiter. Als Unfall mit Fahrerflucht betrachtet die Polizei den Fall zunächst. Nora aber ist überzeugt: Ihr Vater wurde ermordet.

Mit der Rückkehr Noras nach dem Tod des Vaters in die Wüstengegend, in der sie aufgewachsen ist, beginnt der Roman „Die Anderen“ der aus Marokko stammenden amerikanischen Autorin Laila Lalami. Aus Marokko in die USA ausgewandert sind auch Noras Eltern; sie fühlten sich in ihrer Heimat aus politischen Gründen bedroht. Der Vater, ein Intellektueller, hat sich in Kalifornien eine neue Existenz aufgebaut. Er betrieb zunächst einen Donut-Shop. Dieser wurde nach 9/11 abgefackelt. Mit der Versicherungssumme konnte er den Diner an guter Lage übernehmen.

Nora wurde zum Leidwesen ihrer Mutter nicht Zahnärztin, wie ihre ältere Schwester, oder Juristin, sondern Musikerin und Komponistin. „Den Kopf in den Wolken zu tragen, war meine Art, mit dem Leben klarzukommen.“ Jetzt muss sie mit dem Tod ihres Vaters klarkommen. Sie setzt alles daran, dass der Fall geklärt wird. Dabei stösst sie nicht nur auf Mitschüler von früher, die noch immer in der Gegend leben, sondern auch auf Irritierendes aus dem Leben ihres Vaters vor seinem Tod. Sie muss feststellen, dass sie ihn offenbar doch nicht so gut kannte, wie sie meinte.

Nora ist die Hauptfigur des Romans. Doch Laila Lalami erzählt die Geschichte aus den unterschiedlichen Perspektiven einer ganzen Reihe von Figuren, die abwechselnd als Icherzähler auftreten. Darunter die Mutter, der Vater selbst, die im Fall ermittelnde Detektivin, ein zögerlicher Augenzeuge und weitere in irgendeiner Form Beteiligte. Es geht in der Geschichte zwar durchaus darum, wer Noras Vater totgefahren hat. Doch die Autorin hat raffiniert einen vielschichtigen Plot aufgebaut der eine stimmige Mischung aus Krimi, Familiengeschichte, Lovestory und Gesellschaftsporträt ist. Dabei geht es, eingebettet in eine von der Wüstengegend geprägte leise Melancholie, um tiefgreifende Themen wie Rassismus, Familienstrukturen und den Umgang mit dem Tod.

Selbst um Krieg und Frieden geht es in der Beziehung von Nora zu ihrem alten Schulkameraden Jeremy, der als Soldat im Irakkrieg war und jetzt Polizist ist. Und stets um die Geschichte, der man nie entkommt, die einen immer wieder einholt. „Die Gegenwart war nie losgelöst von der Vergangenheit“, erkennt die Detektivin, „das eine nicht verständlich ohne das andere.“

Wertung: 3,2 / 5

Laila Lalami: Die Anderen
(Original: The Other Americans. Pantheon Books, New York 2019)
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber, Zürich 2021. 431 Seiten, 24 Euro/ca. 30 Franken

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Bild: PD

Laila Lalami,

geboren 1968 in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Zu Hause wurde marokkanisches Arabisch gesprochen, in der Primarschule lernte sie Hocharabisch und Französisch. An der Mohammed-V.-Universität in ihrer Heimatstadt studierte sie Englisch. Mit einem Stipendium des British Council schloss sie 1990 ein Masterstudium in Linguistik am University College London ab. Sie war dann zwei Jahre in ihrer Heimat als Journalistin tätig, bevor sie 1992 nach Los Angeles zog. An der University of Southern California promovierte sie in Linguistik.

Seit 1996 schreibt sie als Kultur- und Sprachspezialistin für Zeitungen und Zeitschriften, darunter die „Los Angeles Times“, die „New York Times“ und das „Time Magazine“. Mit dem Kurzgeschichtenband „Hope and Other Dangerous Pursuits“ debütierte sie 1996 auch als Schriftstellerin. 2009 folgte der Roman „Secret Son“. Den Durchbruch erlebte sie mit dem 2014 erschienen Roman „The Moor’s Account“, der mit mehreren Preisen, darunter der American Book Award, ausgezeichnet wurde und auch für den Booker Prize nominiert war und im Final für den Pulitzer-Preis stand. „The Other Americans“, erschienen 2019 und mit dem Joyce Carol Oates Prize ausgezeichnet, ist ihr erstes Buch, das auch auf Deutsch erscheint („Die Anderen“). 2020 veröffentlichte sie den Essay-Band „Conditional Citizens: On Belonging in America“.

Seit dem Jahr 2000 ist Leila Lalami Bürgerin der USA. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der University of California in Riverside. Mit ihrem Mann, einem Ingenieur, dessen Eltern aus Kuba in die USA geflüchtet waren, und einer Teenager-Tochter lebt sie in Santa Monica.


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