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Mord aus Sehnsucht nach Liebe

Der erste Satz
Die Leute wollen immer einen Anfang.

Krimi der Woche ∙ N° 18/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Mitten im tiefen Winter verschwindet im französischen Zentralmassiv die Frau eines Unternehmers aus der Gegend. Ihr Auto steht dort, wo sie jeweils zu einsamen Wanderungen aufbricht. Suchaktionen bleiben erfolglos, die Polizei ist ratlos.

Das ist die Ausgangslage des aussergewöhnlichen Noir-Thrillers „Nur die Tiere“ des vielfach preisgekrönten Autors Colin Niel. Der Franzose erzählt nicht eine Geschichte, sondern deren fünf: Fünf Protagonisten treten als Icherzähler auf und schildern uns, nicht abwechslungsweise, sondern nacheinander, ihre Sicht. Niel meistert dieses knifflige Konzept virtuos. Nicht nur inhaltlich unterscheiden sich die fünf Teile, jede Figur hat ihren ganz eigenen Duktus, ihre eigene Art zu erzählen.

Da ist erst einmal Alice, die als Sozialarbeiterin Bauern in der ärmlichen Region betreut, während ihr Mann Michel ihren elterlichen Hof übernommen hat. Das bringt bitteren sozialen Realismus aus dem französischen Hinterland. „Was wir sehen, sind zerrüttete Familien, Beziehungen, die in die Brüche gehen, weil Madame ein Kind will, Monsieur dagegen einen neuen Stall; Männer, die unter der schieren Last der Arbeit in Depressionen versinken, Rentner, die verkümmern, wenn ihre bessere Hälfe gestorben ist und die Söhne in die Stadt fliehen.“

Alice lässt sich mit Joseph, einem ihrer Klienten, auf eine von ihr initiierte Affäre ein. Joseph selbst, der zweite Icherzähler, ist ein einsamer Romantiker. Er weiss eigentlich, dass „Frauen nun mal nicht so waren, wie ich mir das vorstellte“, aber „solange ich das nicht begriff, würde ich auch keine finden“. Gut versteht er sich nur mit der Leiche der Verschwundenen, die eines Morgens vor seinem abgelegenen Hof liegt.

Die nächste Figur ist Maribé, eine junge Frau, die eine Beziehung zur Verschwunden hatte, die ihre Liebe aber nicht wirklich erwiderte. Dann springt die Geschichte überraschend nach Westafrika, zu Armand, einem Cyberbetrüger, der mit Fake-Liebesschwüren Europäer ausnimmt. „Echt-echt, die Europäer haben nicht genug Liebe, die fehlt ihnen am meisten, weil sie zu Hause hocken und sich nie treffen.“ Mit Michel, dem in seiner Ehe unglücklichen Mann der Sozialarbeiterin Alice, schliesst sich am Ende der Kreis.

Es ist eine Geschichte voller Tristesse um Menschen, die sich in einer unwirtlichen Welt eigentlich nur nach etwas Liebe sehnen. Sie werden Teil eines düsteren Geschehens und fataler Missverständnisse, von denen sie gefühlsmässig etwas spüren, aber nur einen kleinen Teil durchschauen. Uns erschliessen sich die Hintergründe und Zusammenhänge nach und nach. Und wir werden mit einem tragisch-komischen Finale überrascht.

Wertung: 4,2 / 5

Colin Niel: Nur die Tiere
(Original: Seul les bêtes. Editions du Rouergue, Rodez 2017)
Aus dem Französischen von Anne Thomas
Lenos Verlag, Basel 2021. 286 Seiten, 22 Euro/ca. 28 Franken

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Bild: Joub/Wikipedia

Colin Niel,

geboren 1976 in Clamart, einer Kleinstadt im Grossraum Paris, studierte Evolutionsbiologie und Ökologie. Er arbeitete als Agrar- und Forstingenieur und lebte mehrere Jahre in Französisch-Guayana, wo er massgeblich an der Gründung des Amazonasparks mitwirkte. Er lebte zudem in Paris, Lille, Montpellier und im französischen Übersee-Département Guadeloupe, wo er stellvertretender Direktor des dortigen Nationalparks war.

Als Autor gelang ihm der Durchbruch mit der sogenannten guyanischen Serie, vier Romanen, die von 2012 bis 2018 erschienen sind und vielfach ausgezeichnet wurden. 2017 veröffentlichte er ausserhalb dieser Serie den jetzt unter dem Titel „Nur die Tiere“ auf Deutsch erschienen Thriller „Seul les bêtes“. Der mehrfach ausgezeichnete Roman war die Vorlage für den gleichnamigen Film von Dominik Moll, der zurzeit in den Schweizer Kinos läuft. Niels 2020 erschienener Roman „Entre fauves“ wird im kommenden September unter dem Titel „Unter Raubtieren“ auf Deutsch erscheinen (Lenos Verlag).

Colin Niel lebt zurzeit in Marseille, wo er sich dem Schreiben widmet.


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