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Von Schwarzbrennern und Mördern

Der erste Satz
Der Wagen setzte sich im Morgengrauen in Bewegung.

Krimi der Woche ∙ N° 07/2021 ∙ Hanspeter Eggenberger

Mit einem halben Bein weniger ist Rory Docherty aus dem Koreakrieg zurückgekehrt in die Berge von North Carolina. Er ist Anfang 20 und lebt wieder bei seiner Grossmutter, bei der er aufgewachsen ist. Die Menschen am Howl Mountain leben vom Schwarzbrennen. Rory liefert mit seinem 1940er Ford Coupé, das mit einem leistungsstarken Krankenwagenmotor aufgemotzt ist, den illegalen Whisky an Bars und Bordelle im Tal. Verfolger auf den Landstrassen, ob Staatsmacht oder Konkurrenten, hängt er locker ab.

„Maybelline“ heisst der Roman „Gods of Howl Mountain“ von Taylor Brown auf Deutsch. Denn Maybelline nennt Rory seine Maschine. Und so heisst auch seine – relativ junge – Grossmutter, genannt Granny May, die als eine Art Kräuterhexe den Menschen in der Gegen bei allerlei Leiden hilft. Brown zeichnet ein stimmungsvolles Bild der Gegend. Und der Schwarzbrennersippe, die den Berg beherrscht, mit dem lokalen Sheriff kungelt und von eifrigen Bundesbeamten gejagt wird.

Etliche Szenen wirken eher anekdotisch, als dass sie dem eigentlichen Plot dienen – etwa ein Stock-Car-Rennen oder ein Prediger, der mit Klapperschlangen hantiert. Aber sie tragen wesentlich zur Stimmung dieses Country-Noirs bei, der sich auch sprachlich von gängigen Krimis abhebt. Zwischendurch wirkt Browns Bemühen, „richtige Literatur“ zu machen, allerdings schon mal ein bisschen angestrengt. Übers Ganze ist „Maybelline“ aber eine stimmige Geschichte.

Neben dem illegalen Schnapsvertrieb beschäftigt Rory auch das Schicksal seiner Mutter. Als sie noch sehr jung mir Rory schwanger war, wurde ihr Freund ermordet. Sie überlebte den brutalen Überfall, bei dem sie dem Angreifer ein Auge ausstach. Doch sie hat seither kein Wort mehr gesprochen und lebt in einer psychiatrischen Anstalt. Rory will den Täter, der seit rund zwanzig Jahren einäugig sein muss, finden. Das Resultat seiner Nachforschungen ist für ihn und seine Oma überraschend. Gleichzeitig eskaliert die Jagd der Bundesagenten auf die Schwarzbrenner zu einem gröberen Feuergefecht am Howl Mountain.

Taylor Browns „Maybelline“ erinnert in manchem an die genialen Bull-Mountain-Romane von Brian Panowich (Deutsch bei Suhrkamp), auch wenn diese in der heutigen Zeit angesiedelt sind. Am Bull Mountain in Georgia hatten die früheren Schwarzbrenner zunächst auf Marihuana umgestellt und betreiben inzwischen Meth-Labors. Am Howl Mountain zeichnet sich ebenfalls eine Verlagerung des Geschäftsgebiets ab: Wenn Granny May das Kommando übernimmt, will sie statt auf Alkohol auf das Kraut setzen, das sie selber gerne raucht.

Wertung: 3,7 / 5

Taylor Brown: Maybelline
(Original: Gods of Howl Mountain, St. Martin’s Press, New York 2018)
Aus dem Englischen von Susanna Mende. Mit einem Nachwort von Kirsten Reimers
Polar Verlag, Stuttgart 2021. 412 Seiten, 14 Euro/ca. 20 Franken

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Bild: Benjamin Galland

Taylor Brown,

geboren 1982, wuchs an der Küste von Georgia auf. Er studierte Englisch an der University of Georgia in Athens, wo er 2005 abschloss.

Er veröffentliche Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 2014 erschien seine Kurzgeschichtensammlung „In the Season of Blood and Gold“. 2016 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Fallen Land“, im Jahr darauf den zweiten, „The River of Kings“. Der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „Maybelline“, im Original „Gods of Howl Mountain“, folgte 2018 als dritter Roman. Der vierte, „Pride of Eden“, ist 2020 erschienen.

Taylor Brown ist ein Liebhaber von klassischen Motorrädern und Retrobikes wie Cafe Racers und Scramblers. Er ist Gründer und Chefredaktor des solchen Motorrädern gewidmeten Online-Magazins „BikeBound“.

Er lebte zeitweise in Buenos Aires, San Francisco und in den Bergen von North Carolina, wo „Maybelline“ spielt. Heute lebt er in Wilmington an der Atlantikküste im US-Bundesstatt North Carolina.


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