Wenn die Wahrheit niemandem hilft
Der erste Satz
IMaya Seale zog zwei Fotografien aus ihrer Aktentasche, hielt sie aber noch verdeckt in der Hand.
Krimi der Woche ∙ N° 53/2020 ∙ Hanspeter Eggenberger
Zehn Jahre ist es her, dass Maya Seale als junge Frau in einem spektakulären Prozess Geschworene war. Nach dieser Erfahrung ist sie Anwältin geworden und inzwischen erfolgreich in diesem Job. Damals war sie es, die die Mitgeschworenen davon überzeugte, den des Mordes angeklagten Schwarzen nicht schuldig zu sprechen. „Nicht, weil er unschuldig gewesen wäre, sondern schlicht, weil es nicht genug Beweise gegeben hatte, um es mit Sicherheit sagen zu können. Es war besser – so hatte sie argumentiert –, dass zehn Schuldigte freigelassen würden, als dass ein einziger Unschuldiger fälschlich verurteilt würde.“
Es ging um das Verschwinden der Schülerin Jessica, der Tochter des grössten Immobilienmoguls von Los Angeles. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Mehrere der damaligen Geschworenen haben später ihre Meinung geändert, einer, Rick, hat sogar ein Buch darüber geschrieben und Maya immer wieder heftig angegriffen. Nach zehn Jahren soll nun eine TV-Doku darüber gedreht werden. Dafür treffen sich die damaligen Geschworenen zum ersten Mal wieder. Am Abend wird Rick tot in Mayas Hotelzimmer aufgefunden. Und sie ist die Hauptverdächtige.
Das ist die Ausganslage im ebenso originellen wie spannenden Justizthriller „Verweigerung“. Graham Moore, erfolgreicher Schriftsteller und Drehbuchautor (ausgezeichnet mit dem Oscar für das Drehbuch von „The Imitation Game“), erzählt die vertrackte Geschichte in Kapiteln, die abwechselnd heute und während des Prozesses spielen. Auch Jessicas Vater greift nach wie vor in die Geschichte ein: Der Milliardär möchte den damals Freigesprochenen immer noch hinter Gittern oder gar tot sehen.
Es geht daher nicht nur um die Frage, wie Rick zu Tode kam, sondern auch darum, was damals mit Jessica geschehen war. Ist sie überhaupt ermordet worden? Und wenn, von wem und weshalb? Wobei es mit der Wahrheit in Justizverfahren nicht immer einfach ist. Der Autor, der in einer Juristenfamilie aufgewachsen ist, zeigt das Dilemma: In einem Fall ist die Wahrheit eher diffus und könnte verschiedene Schlüsse zulassen, weshalb es eine Lüge, einen Meineid, braucht, damit die Beschuldigte nicht für ein Verbrechen bestraft wird, das sie nicht begangen hat.
Damit setzt sich der Roman beiläufig und keineswegs akademisch auch damit auseinander, dass manche juristischen Verfahrensregeln überhaupt nicht der Wahrheitsfindung dienen und seltsame Winkelzüge provozieren oder erfordern. „Die Wahrheit war, wie immer, weder eine Verteidigungsstrategie noch eine Rettung“, heisst es, als Maya sich mit ihrem Anwalt bespricht. „Die Wahrheit half niemandem.“
Wertung: 3,8 / 5
Graham Moore: Verweigerung
(Original: The Holdout, Random House, New York 2020)
Aus dem Englischen von André Mumot
Eichborn, Köln 2020. 396 Seiten, 22 Euro/ca. 30 Franken
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Graham Moore,
geboren 1981 in Chicago, wuchs in einer Juristenfamilie auf – „der Sohn von zwei Anwälten, die sich scheiden liessen und dann zwei andere Anwälte heirateten“. Seine Mutter Susan Sher war Chefjuristin der Stadt Chicago und später Stabschefin von First Lady Michelle Obama, sein Vater Gary Moore Anwalt für Versicherungsrecht. Graham Moore, der jüdisch erzogen wurde, beendete 1999 die University of Chicago Laboratory School und schloss 2003 die Columbia University in New York mit einem BA in Religionsgeschichte ab.
Als Drehbuchautor schrieb er 2009 eine Folge für die kurzlebige TV-Serie „10 Dinge, die ich an dir hasse“. 2011 adaptierte er die Biografie „Alan Turing: The Enigma“ von Andrew Hodges aus dem Jahr 1983 fürs Kino; das Drehbuch wurde 2014 unter dem Titel „The Imitation Game“ verfilmt; Graham Moore wurde dafür mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet.
2010 erschien sein erster Roman „The Sherlockian“ (Deutsch: „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“, 2019). 2016 folgte sein zweiter Roman „The Last Days of Night“ (Deutsch: „Die letzten Tage der Nacht“, 2018). „The Holdout“ (2020, Deutsch: „Verweigerung“; alle deutschen Titel im Eichborn Verlag) ist sein drittes Buch. Zurzeit adaptiert er diesen Roman für eine TV-Serie.
Graham Moore und seine Frau Caitlin Decker, die Mode entwirft, leben mit ihrem Hund Janet in Los Angeles.